Johannes Grasser:
Vom Rollstuhl auf den Zuckerhut

Vorbild für Lebensmut​

Rio de Janeiro, Oktober 2022

Johannes „Johnny“ Grasser aus Bamberg kann aufgrund einer beinbetonten Tetraspastik / Infantilen Cerebralparese nur mit Mühe und kurze Zeit gehen und stehen. Dass er fast permanent auf einen Rollstuhl und von Geburt an auf eine 24/7 Betreuung angewiesen ist, bedeutet für ihn eine Motivation um auszuloten, was mit einer Körperbehinderung möglich ist.

Grasser erklärt auf seiner Homepage:

„Ich versuche mich an jedem nur irgendwie möglichen Sport sowie jedweder Herausforderung im Leben, trainiere mehrere Stunden täglich und lasse mich einfach von nichts unterkriegen.“

Video

Vorbereitung für den Kraftakt

Dass der Felsen des Zuckerhut 396 Meter hoch und bis zu 80 Grad steil ist, betrachtet Johannes Grasser eher als Herausforderung für die Vorbereitung.

Ohne die Kraft der Beine zu klettern ist für gesunde Menschen unvorstellbar. Für Johnny heißt das: Dann müssen eben die Arme um so mehr trainiert werden – auch wenn sie die Kraft der Beine nicht ersetzen können.

Im Kletterpark trainierte Johnny mit den Kletterprofis Paul und Janek die optimale Technik: Griffe, Bewegungen, Körperspannung, Balance, Arbeiten mit Seilen und Karabinerhaken, usw.

Nachfolgend lesen Sie einen beeindruckenden Bericht des Projekts „vom Rollstuhl auf den Zuckerhut“.

Auch die ARD Sportschau berichtete in diesem Video über Johnny Grassers inspirierende Leistung.

Johannes Grasser Bamberg, Zuckerhut Klettern Training

Planung und Koordination

Bis kurz vor der endgültigen Abreise war es noch sehr turbulent.

Da der Physiotherapeut Janek Rahtz am 28. Oktober nach Tokio zur Para Badminton WM fliegen musste, konnte das vierköpfige Expeditionsteam nicht, wie ursprünglich vorgesehen, gemeinsam in Köln abfliegen und gemeinsam nach Köln zurückfliegen.

Die Lösung bestand darin, dass Janek, Paul und Johnny am 17. Oktober von Köln über München nach Rio de Janeiro aufgebrochen waren und die Bergführerin Mirjam Limmer am 22. Oktober von Innsbruck über München nach Rio geflogen kam.

Die Kontakte in Rio de Janeiro, die sie ein paar Wochen zuvor bekommen hatten, halfen ihnen bei der Logistik vor Ort sowie bei den Filmaufnahmen.

Angekommen in Rio de Janeiro wurden sie von der Brasilianerin Miriam herzlich empfangen und zum Hotel begleitet

Währenddessen erhielten sie erste Instruktionen über die Kletterrouten am Zuckerhut.

Johnny Grasser Bamberg, Zuckerhut Erklimmung, vorher

Ohne Rollstuhl durch den Dschungel

Direkt am nächsten Morgen folgte die erste Begehung des Zustieges zur Kletterroute am Zuckerhut.

Da sie keine Vorerfahrung hatten, nahmen sie den Rollstuhl mit und mussten schnell feststellen, dass dieser sehr ungeeignet war für den Weg von der Mittelstation der Gondel durch den Dschungel bis zum Einstieg in die Kletterroute am Felsen.

Der tiefe Dschungel war viel zu eng und unwegsam, um mit dem Rollstuhl vorwärts zu kommen.

Kurzerhand entschieden sich Janek und Paul, Johnny wie beim Militär auf den Schultern durch den Dschungel zu tragen.

Johannes Grasser, Zuckerhut Rio, Urwald, Bafatex Keyser Stiftung

Training vor Ort

Mit den Locals vor Ort folgten in den nächsten zwei Tagen zwei Trainingseinheiten, wovon eine am Felsen relativ gut klappte, die zweite am nächsten Tag eher weniger gut (diese kam dem eigentlichen Aufstiegstag sehr nahe).

Johnny wurde allmählich klar, dass dieses Unterfangen sehr schwierig werden würde.

Nachdem Mirjam Limmer am 22. Oktober spätabends in Rio de Janeiro gelandet war, berichteten Johnny, Paul und Janek von den bisherigen Erfahrungen.

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Johannes Grasser, Zuckerhut Klettern, Ankunft Rio de Janeiro

Erkundung der Kletterstrecke

Wie geplant ging es am nächsten Tag zu früher Stunde für Mirjam, Paul und Janek erneut zum Zuckerhut, um die ursprünglich vorgesehene Route einmal von A bis Z zu klettern und einen Eindruck zu erhalten.

Um die drei Stunden braucht ein geübter Kletterer, der sich an der Route auskennt.

Während Johnny im Hotel wartete, vergingen viele Stunden und mit jeder weiteren rückte das erfolgreiche Erklimmen des Zuckerhutes in weitere Ferne.

Allmählich stellte sich Johnny darauf ein, dass dieses Projekt eventuell nicht möglich sei.

Nachdem die drei vom Felsen zurückgekehrt waren, berichten sie von ihren Eindrücken und Erfahrungen.

Schnell war klar, dass die ursprünglich vorgesehene Route keine Option ist.

Zu anspruchsvoll, und vor allem zu gefährlich, um mit Johnny adäquat vorwärts zu kommen.

Steigung Berg Klettern Rollstuhlfahrer Spastiker Lähmung

Glück: Das Stahlkabel

Doch Mirjam entdeckte neben der Route ein sogenanntes Kabel (ein Stahlseil). Umgehend erkundigte sie sich bei den Verantwortlichen, wie weit dieses Stahlseil nach unten geht. Glücklicherweise zeigte sich, dass dieses Stahlkabel schon wenige Meter nach dem Einstieg in die alternative Route beginnt.

Somit machten sich wiederum am nächsten Tag Jonny, Paul, Janek und Mirjam erneut auf den Weg zum Zuckerhut, um herauszufinden, ob ein Klettern mit Johnny am Stahlseil möglich wäre und unter welchen Bedingungen.

Mirjam Limmer Stahlseil Klettern Zuckerhut Rio

Klettertechnik ohne Bein-Kraft

Um Johnny das Klettern zu erleichtern, hatte sich Mirjam den Plan überlegt, einen Flaschenzug im Kletterseil einzubauen, um so mehr Zug auf das Seil zu bringen und Johnny das Körpergewicht teilweise abzunehmen.

Mirjam kletterte ein paar Meter vor Johnny und seinem Neben-Kletterer. Sie zählte jeweils bis drei, ehe sie sich mit ihrem gesamten Körpergewicht in die Wand stemmte, um das Seil, an dem Johnny hing, etwas zu entlasten.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten hatten sich alle darauf eingestellt und es klappte vergleichsweise gut.

Die ersten zwei Seillängen schaffte das Team an diesem Trainingstag. Höhenmäßig waren das noch keine 25 m, für die die vier mehr als zwei Stunden brauchten.

Insgesamt lagen 220 Höhenmeter vor dem Team die es am Aufstiegstag bezwingen musste, um oben anzukommen.

Beine stemmen, Rio de Janeiro Klettern Rollstuhlfahrer Johannes Grasser

Letzte Vorbereitungen

Nun blieben dem Team noch vier Tage, ehe Janek nach Tokio abfliegen musste.

Um die nötige Regeneration zu gewährleisten, war klar, dass der Montag (24. Oktober 2022) ein Tag ohne Klettern sein würde.

Die Absprachen mit dem Kamerateam wurden getroffen, letzte Vorbereitungen und Besorgungen wurden gemacht.

Unter anderem Handschuhe und Knieschoner für Johnny, sowie Handschuhe für seine beiden Begleiter, um sich am Stahlseil nicht unnötig zu verletzen.

Auch war klar, dass Johnny viel mehr Hilfe brauchen würde als gedacht.

Alle stellten sich auf Dienstag oder Mittwoch als potenziellen Aufstiegstag ein, denn das Wetter war mit 20 Grad und bewölkt als nahezu perfektes Kletterwetter angesagt.

Johnny Grasser Bamberg, Rollstuhlfahrer, Extremsportler mit Behinderung

Die Nervosität steigt: Es wird ernst!

Um kurz vor Mitternacht am Sonntag (23. Oktober) ereilte das Team die Nachricht, dass der Zuckerhut wegen Wartungsarbeiten für die nächsten drei Tage gesperrt sei. Damit war klar, dass nur noch der Donnerstag als Aufstiegstag verfügbar war, denn Janek musste am Freitag nach Tokio abfliegen.

Wie hätte es anders sein sollen, war für diesen Tag strahlender Sonnenschein und bis zu 35 Grad vorher gesagt. Da der Zuckerhut ab ca. 10 Uhr morgens in der knallen Sonne steht und relativ schwarz ist, war klar, dass es sehr heiß und anstrengend werden würde. Alles andere als perfekte Bedingungen.

Eilig versuchten die brasilianischen Kontakte mit den Behörden am Zuckerhut zu verhandeln, die Gondel nicht erst morgens um 9 Uhr fahren zu lassen, sondern idealerweise schon um 5 Uhr, damit wir möglichst früh vor Sonnenaufgang mit dem Aufstieg loslegen konnten. Glücklicherweise willigten sie letztendlich ein.

Die Stimmung im Team war gut, aber durchaus angespannt. Alle freuten sich auf dieses Ereignis und dennoch wusste keiner so richtig, wie es wirklich werden würde. Johnny war, laut eigener Auskunft, noch nie so nervös gewesen wie vor diesem Tag.

Johannes Grasser, Zuckerhut Rio de Janeiro, Logistik Gondel

Wettlauf gegen die Zeit

27 Oktober 2022, 2:30 Uhr morgens brasilianische Zeit:

Nach einer schlaflosen Nacht erhielt Johnny von Physiotherapeut Janek eine kurze Behandlung, um möglichst beweglich zu sein. Danach packte das Team seine Sachen, und um 3:40 Uhr morgens verließ das Team das Hotel in der Rua dos Invalidos Richtung Zuckerhut.

An der Talstation der Gondel-Anlage angekommen, wurden letzte Vorbereitungen getroffen.

Alle bis auf einer waren da (Simon Spaedtke als Regisseur und Kameramann, der brasilianische Kameramann am Felsen, Drohnenpilot, Feuerwehr und Medizinpersonal, brasilianische Kletterer als Sicherungspartner, so wie die brasilianische Miriam und die Verantwortlichen der Zuckerhutbehörden).

Nur der brasilianische Tonmann fehlte, der mit als erster in die Kletterroute einsteigen sollte. Er hatte verschlafen. Mit einer Stunde Verspätung tauchte er auf und somit konnten wir uns in Bewegung setzen. Es ging mit der Gondel auf die Mittelstation. Aufgrund der Zeitverzögerung war es nun mehr denn je ein Wettlauf gegen die Zeit geworden.

Team auf dem Gipfel des Zuckerhut

Unterstützer

Als verantwortliche Expertin am Berg war es Mirjam Limmers Ziel, vor Sonnenuntergang am Gipfel anzukommen – allerspätestens also um 17:30 Uhr brasilianischer Zeit.

Da Janek mit seinem brasilianischen Sicherungspartner bis auf die Hälfte der Route vorkletterte, um dort auf Paul, Mirjam und Johnny zu warten, war es Janek’s Aufgabe Johnny die 2,5 km durch den Dschungel zu tragen. Er hatte nach seinem Aufstieg auf die Hälfte ja erstmal ein paar Stunden Pause.

An der Route angekommen, stiegen zuerst der Kameramann, der Tonmann und ein brasilianischer Sicherungspartner in die Route ein. Gefolgt von Janek mit seinem brasilianischen Sicherungspartner. Danach folgte Mirjam Limmer mit Paul und Johnny.

Mirjam Limmer Kletterexpedition Zuckerhut mit Johnny Grasser

Es ist so weit!

Es war am 27. Oktober 2022 um 7:02 Uhr morgens brasilianische Zeit, als Johnny den ersten Fuß auf den Granit des Zuckerhutes setzte.

Mehr als eine Stunde später als geplant, aber umso fokussierter, machte sich das Team auf den Weg Richtung Gipfel. Die ersten Meter liefen gut und das Team kam vergleichsweise planmäßig voran.

Während des Kletterns ist man so fokussiert, dass man kaum den Kopf und die Sinne für etwas anderes hat.

Johannes Grasser, Zuckerhut Rio, am Fuß des Berges

An der Steilwand

Für die Helfer von Johnny war es mit jedem Zentimeter ein wahrer Kraftakt und gleichzeitig ein Wettlauf gegen die Zeit.

Nach ca. 4,5 Stunden waren Mirjam, Paul und Johnny bereits am Wechselpunkt – also auf ca. der Hälfte angekommen, wo Janek auf die drei wartete.

Zu diesem Zeitpunkt war es bereits sehr heiß geworden, denn die Sonne war schon seit 1,5 Stunden direkt am bzw. über dem Zuckerhut.

An der Wand, mitte Zuckerhut

Ein Hoch auf die Knieschoner!

Da Johnnys Füße häufig über den Felsen geschleift wurden, waren seine Schuhe bereits bei der Hälfte komplett löchrig und die Zehen schauten vorne raus.

Auch Johnnys Hose war bereits zerrissen.

Es war mehr als hilfreich, dass er darunter zusätzliche Knieschoner hatte, die er ursprünglich gar nicht mitnehmen wollte.

Kletterexpedition Zuckerhut Knieschoner Hose verschlissen

Kein zurück – Point of no Return

Auf der Hälfte der Route angekommen – also beim Wechsel von Paul und Janek – war die letzte Möglichkeit, um den Aufstiegsversuch abzubrechen. Wenn es jetzt weitergehen sollte, hätte es kein Zurück mehr gegeben. Schnell war klar, dass die vier weitermachen.

Paul kletterte also mit seinem brasilianischen Sicherungspartner bis zum Gipfel. Er brauchte dafür keine 30 Minuten. Kurze Zeit später ging es auch für Mirjam, Janek und Johnny weiter Richtung Gipfel.

Begann die zweite Hälfte anfänglich noch relativ gut, wurde es zunehmend anstrengender und jeder Zentimeter ein Kampf. Teilweise war das Stahlkabel oder der Fels so heiß, dass man sich durch die Handschuhe fast die Hand verbrannt hat.

Je weiter die Zeit voranschritt und je löchriger Johnnys Schuhe wurden, desto weniger konnte er mit seinen Füßen mithelfen. Desto anstrengender wurde es aber auch für Mirjam und Janek.

Hinzu kamen die knallende Hitze von 35 Grad im Schatten. Am Felsen fühlte sich dies häufig deutlich heißer an.

Klettern, an der Wand, point of no return

Am Ende der Kräfte

Kurz vor Erreichen des Gipfels wurde es noch einmal schwierig.

Je flacher der Felsen wurde, desto anstrengender wurde es für Johnny sich vorwärts zu bewegen.

Ohne Kraft au sden Beinen konnte er nicht einfach aufstehen und frei mit den Füßen Richtung Gipfel laufen.

Der letzte Meter dauerte fast eine Stunde.

Zentimeter für Zentimeter kämpfte sich das Team nach oben.

An der Wand, kurz vor dem Gipfel

Geschafft!

Tatsächlich pünktlich um 17:30 Uhr brasilianischer Zeit erreichte auch Johnny die Plattform direkt unter der Gondel am Gipfel des Zuckerhutes.

Der Plan von Mirjam Limmer, die unfassbare Energieleistung von ihr, Janek und Paul und das gesamte Team rund um Johnny hatten es geschafft. Der Zuckerhut wurde erklommen.

Zu behaupten Johnny sei geklettert, wäre unter diesen Umständen eine Lüge, aber das Ziel war ja auch ein anderes: Oben ankommen. Das hatten sie geschafft, gemeinsam und mit höchster und letzter Anstrengung, mit Leidenschaft und unfassbarem Willen.

Johannes Grasser, Ankunft Gipfel Zuckerhut Rio de Janeiro

An den Tagen danach reiste das Team teilweise getrennt entweder nach Hause oder direkt zum nächsten „Job“ während Simon und Johnny noch die logistischen Sachen mit Behörden und Kamerateam in Rio rückabwickelten, ehe es auch für sie am 4. November 2022 zurück nach Deutschland ging.

Johnny:

„Es ist immer noch surreal, dass wir es wirklich geschafft haben, auch wenn mein rationaler Kopf das weiß. Wirklich real wird es hoffentlich werden, wenn wir alle den Film zu sehen bekommen. Ich hätte mir kein besseres Team vorstellen können, um so eine verrückte Idee zu realisieren, denn ohne dieses Team hätte ich keinen einzigen Zentimeter geschafft. Das Größte, was ich schon jetzt daraus mitnehme, ist nicht die Tatsache den Zuckerhut erklommen zu haben, sondern die Erkenntnis: Ich sollte noch öfter mich selbst und meinen Charakter hinterfragen, um auch anderen Leuten mehr Freiraum und Respekt zuteil werden zu lassen. Mich persönlich – und vielleicht auch andere im Team – hat dieses Projekt über alle Grenzen gebracht. Ich weiß jetzt, dass ich keine Projekte mehr machen werde, die mich so weit über diese Grenzen bringen. Aber ich bin froh, dass dieses Projekt genau das getan hat. Denn nur so konnte ich viel über meinen Charakter lernen und hatte die Chance, etwas für mich Einmaliges zu realisieren.

Danke an alle, die dieses Projekt ermöglicht haben. Danke an alle Sponsoren, wie Bafatex mit der Keyserstiftung, die Constellation Academy, Adidas und alle weiteren Ausrüster. Danke an die brasilianischen Unterstützer vor Ort. Und danke an dieses unfassbar tolle Team!

Danke Mirjam, danke Janek und danke Paul, dass ihr mit mir diesen verrückten Weg gegangen seid. Danke auch an Simon Spaedtke als tollen Regisseur, Freund und Filmproduzenten. Wir alle freuen uns auf den Film und sind gespannt.
Für mich war es ein Erlebnis, was uns hoffentlich immer verbinden wird und an das ich mich noch gerne und lange erinnern werde.“

Zuckerhut Bergsteiger Rollstuhlfahrer Lebensmut

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